Nachruf des BundestagesPolitikerin mit dem Mut einer Suffragette und dem Herzen einer Frau.
„Frauen müssen sich in die staatsbürgerlichen Aufgaben bewusst und freudig einmischen.“ (1930)
„Das Leben ist Kampf – siege!“ (1956)
„Wir wollen eine Gesellschaftsordnung schaffen, in deren Mittelpunkt der Mensch steht.“ (1960)
Die Politikerin Helene Wessel ist heute fast vergessen, dabei war sie eine „der bedeutendsten Politikerinnen der Nachkriegszeit“ (Friese, S. 288) und eine „der ungewöhnlichsten Frauen des politischen Lebens in Deutschland“ (SZ 14.10.1969). In den fünfziger Jahren war sie überaus bekannt. In der Presse wurde sie als „fromme Helene“, „Hausdrache“, „schwarzer Dragoner“ und „Kommandeuse“ tituliert. Sie war eine streitbare Frau, die ihren Standpunkt mit einer Konsequenz vertrat, die persönliche oder interfraktionelle Rücksichten nicht zu kennen schien und sich nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet fühlte, selbst wenn es für sie unbequem wurde.
- Als überzeugte Katholikin trat sie nach dem Krieg nicht in die CDU ein, sondern war eine namhafte Gegnerin von Adenauers Regierungspolitik.
- 1948/49 arbeitete sie im Parlamentarischen Rat als eine von vier Frauen am Grundgesetz mit, stimmte dann aber gegen den endgültigen Entwurf.
- Sie stand als erste Frau in der Bundesrepublik an der Spitze einer Partei. 1949 wurde sie Partei- und Fraktionsvorsitzende des Zentrums, das sie mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft aufgebaut hatte, mit dem sie aber 1952 brach.
- Mit Gustav Heinemann gründete sie 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei, die gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik eintrat, doch scheiterte.
- 1957 bis zu ihrem Tod vertrat sie die SPD im Deutschen Bundestag. Dort kämpfte sie gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr. 1968 stimmte sie in ihrer Fraktion in der Minderheit gegen die Notstandsgesetze.
- Sie stand für ein konservatives Familienkonzept, lebte selbst aber mit ihrer Lebensgefährtin Alwine Cloidt zusammen.
Antje Dertinger schrieb über sie: „Eine Frau voller Widersprüche? – Keineswegs. Aber eine Persönlichkeit mit Grundsätzen“.
Schon Anfang der sechziger Jahre war sie in der Öffentlichkeit nicht mehr so präsent. So musste sie den Acht-Uhr-Nachrichten des WDR am 7. August 1962 entnehmen, dass sie am selben Tage in Recklinghausen beerdigt werden würde. Sie war mit der CDU-Bundestagsabgeordneten Helene Weber verwechselt worden. (Spiegel 32/1962)
Im Laufe ihres Lebens erlebte Helene Wessel die Monarchie des Kaiserreichs, die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur und die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik sowie beide Weltkriege. Ihre beiden politischen Karrieren in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik machte sie zu einer Zeit, als Frauen in der Politik eine große Ausnahmeerscheinung waren.
Herkunft, Ausbildung, politische Anfänge (1898 bis 1918)
Sie kam als Jüngste von vier Geschwistern in einem katholischen kleinbürgerlichen Elternhaus in Dortmund zur Welt. Ihr Vater, Lokomotivführer und Mitglied des Zentrums, verunglückte tödlich, als sie sieben Jahre alt war. Bis 1912 besuchte sie die Volksschule und dann für ein Jahr die Handelsschule. Anschließend absolvierte sie eine kaufmännische Lehre. 1915 fand sie Arbeit im örtlichen Büro der Zentrums-Partei. 1917 wurde sie Mitglied des Zentrums, obwohl Frauen weder das aktive noch das passive Wahlrecht hatten. Am Ende des ersten Weltkriegs war sie eine untergeordnete Parteifunktionärin.
Berufliche Qualifizierung und politische Karriere (1919 bis 1933)
Helene Wessels soziales Engagement ergab sich aus ihrem katholischen Glauben. 1923 ließ sie sich an einer Fachschule in Münster zur Jugendfürsorgerin ausbilden. Unterricht und Aufenthalt finanzierte sie aus dem Verkauf ihrer selbst zusammengetragenen Briefmarkensammlung. Zurück in Dortmund arbeitete sie in ihrem neu erlernten Beruf in der Jugendpflege. 1929 erweiterte sie ihre berufliche Qualifikation durch eine einjährige Fortbildung zur Diplomwohlfahrtspflegerin an der von Alice Salomon gegründeten „Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ in Berlin.
Neben ihrem Beruf widmete sich Helene Wessel der parteipolitischen Arbeit. 1919 nahm sie am ersten Parteitag des westfälischen Zentrums nach dem ersten Weltkrieg teil. 1928 wurde sie für das Zentrum jüngste Abgeordnete des preußischen Landtags. Dabei erwies sie sich bald als Expertin für Sozialpolitik. Ihre politische Karriere endete vorerst 1933. Nach der Annahme des „Ermächtigungsgesetzes“ trat der preußische Landtag nicht mehr zusammen. Sie selbst äußerte später, sie habe sich im Gegensatz zu ihrer Partei „bei der Abstimmung der Stimme enthalten“. Ihre Aussage ist aber nicht überprüfbar, weil nicht namentlich abgestimmt wurde.
Die Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945)
Unter der NS-Herrschaft verzichtete Helene Wessel auf politische Aktivitäten. „Ich habe mich sehr unsichtbar gemacht, um der Gestapo keine Angriffsfläche zu bieten“, erklärte sie im Nachhinein. Als „politisch unzuverlässig“ eingestuft, fand sie in der NS-Zeit in ihrem erlernten Beruf keine Anstellung. In verschiedenen katholischen Einrichtungen übernahm sie Büroarbeiten. 1939 erhielt sie eine Stelle als Fürsorgerin in einem katholischen Frauenverein. Dort zog sie auch ein, nachdem sie dreimal ausgebombt worden war. Als nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler in der sogenannten „Aktion Gewitter“ unter anderem alle Zentrumspolitiker*innen verhaftet werden sollten, setzte sich Helene Wessel zu ihrer aus dem von Bomben bedrohten Dortmund evakuierten Mutter nach Baden ab.
Helene Wessel veröffentlichte 1934 das Buch „Bewahrung – nicht Verwahrlosung“. Darin bedient sie sich einer in den zwanziger Jahren durchaus üblichen, uns heute entsetzlich anmutenden Sprache, wenn sie von „Asozialen“ und „Minderwertigen“ spricht. Das von ihr geforderte Bewahrungsgesetz, das die zwangsweise Unterbringung auch von volljährigen „verwahrungsbedürftigen“ Personen in Heimen vorsah, war seit den zwanziger Jahren in der Diskussion. Die Radikalisierung dieses Fürsorgekonzepts durch die Nationalsozialisten bis hin zu den systematischen Behinderten- und Krankenmorden war in ihm als Möglichkeit angelegt, aber von Helene Wessel nicht vorauszusehen und nicht beabsichtigt.
„Die Einordnung Helene Wessels als Täterin, d.h. als Sozialpolitikerin, die durch die Formulierung des Verwahrungsgesetzes den Boden für dessen spätere Pervertierung durch die Nationalsozialisten bereitet hat, wie sie Ebbinghaus (…) vornimmt, ist zurückzuweisen. Sie unterstellt Helene Wessel damit eine bewusste Inkaufnahme, ja sogar letztendlich eine Intention der Maßnahmen, die die Nationalsozialisten auf dem Gebiet der Euthanasie und der Jugend-KZs vornahmen. Unberücksichtigt bleibt dabei auch, daß Helene Wessel die Sterilisation aufgrund ihres Glaubens abgelehnt hat. Über die Euthanasie als „Lösung“ fürsorgepolitischer Probleme hat sich Helene Wessel nie geäußert. Aus meiner Kenntnis ihrer Person hätte sie diesen Gedanken auch weit von sich gewiesen.“ (Friese, S. 42)
In der Zentrums-Partei bis zum Parteivorsitz (1945 bis 1949)
Nach dem zweiten Weltkrieg beteiligte sich Helene Wessel am Aufbau einer neuen demokratischen Republik. Sie gehörte im Oktober 1945 zu den Gründungsmitgliedern der Zentrums-Partei, deren Wiederaufbau sie mit enormem persönlichem Einsatz vorantrieb. Auf dem ersten Parteitag des Zentrums 1946 wurde sie zur stellvertretenden Vorsitzenden gewählt.
Allerdings gab es eine konkurrierende Partei-Neugründung, die der CDU, der viele ehemalige Mitglieder des Zentrums beitraten. Helene Wessel hielt die CDU für ein Sammelbecken reaktionärer Kräfte und Altnazis. Zudem stand die CDU ihrer Ansicht nach nicht in der sozial-fortschrittlichen Tradition des politischen Katholizismus, dem die Herstellung sozialer Gerechtigkeit wichtigstes Anliegen war.
Anfangs arbeitete Helene Wessel weiter in ihrem Beruf als Fürsorgerin in Dortmund. Nach eigener Aussage wollte sie keine „Berufspolitikerin“ werden, denn dadurch verliere man „seine völlig selbständige Stellung, die gerade im politischen Leben so dringend notwendig ist“. Nach kurzer Zeit gab sie aber ihre Berufstätigkeit auf und konzentrierte sich auf ihre politische Arbeit. Beides gleichzeitig ließ sich ohne Überforderung nicht mehr bewältigen. 1947 war sie quasi schon eine Berufspolitikerin. Sie besaß ein vom Zentrum finanziertes Auto mit Chauffeur und beschäftigte Alwine Cloidt als Privatsekretärin.
Mit Alwine Cloidt, ihrer späteren Lebensgefährtin, war sie schon seit ihrer Jugend befreundet. 1916 trug sie ihr ins Poesiealbum ein: „Im Herzen rein, Im Kopfe klar, Im Sinn bescheiden, Im Worte wahr!“ 1920 traten beide zusammen bei einem Lieder- und Balladenabend in Dortmund auf. Nach 1945 wurde Alwine Cloidt, die seit 1921 verheiratet war und 1950 geschieden wurde, Helene Wessels engste Mitarbeiterin. Mit ihrer Übersiedlung nach Bonn 1949 bezogen beide eine gemeinsame Wohnung. 1958 kauften sie sich zusammen ein Haus in Bonn, welches jeder zur Hälfte gehörte.
Helene Wessel hielt es für dringend erforderlich, mehr Frauen für die Politik zu mobilisieren, weil sie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stellten und ihr Wirken in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dem Wohle aller zuträglich sei. Um Frauen für die Zentrums-Partei zu aktivieren, richtete sie lokale Frauenausschüsse ein, an deren Spitze der Partei-Frauenausschuss stand, dessen Vorsitz sie selbst innehatte. Sie bemühte sich, mehr Frauen in Führungspositionen des Zentrums zu bringen. So konnte sie auf dem Parteitag im Januar 1948 eine Frauenquote von 20 Prozent im Hauptvorstand der Partei durchsetzen. Dort beantragte sie auch, Frauen bei Wahlen auf sicheren Listenplätzen zu nominieren. Es war ihr klar, dass sich Frauen ihre Rechte immer „erkämpfen und erarbeiten“ müssen. Dafür war sie sogar bereit, mit Kommunistinnen zusammenzuarbeiten wie dem 1947 in Ostberlin gegründeten Demokratischen Frauenbund. „Wir Frauen müssen über Parteizäune hinweg versuchen, das gemeinsame große Frauenanliegen unserer Zeit zu fördern“.
Die Wahl zur Parteivorsitzenden auf dem Zentrums-Parteitag im Oktober 1949 mit 95% der Stimmen war für Helene Wessel der Höhepunkt ihrer politischen Arbeit im Nachkriegsdeutschland. Ihren Aufstieg an die Parteispitze wertete sie nicht nur als persönliche, sondern auch als „für die Frauen allgemein eine besondere Anerkennung“.
Grundgesetzarbeit im Parlamentarischen Rat (1948 bis 1949)
Helene Wessel fühlte sich verpflichtet, eine neue Verfassung für die Bundesrepublik mit auszuarbeiten, um etwas für die „Frauensache“ zu erreichen. Dem Parlamentarischen Rat gehörten vier Frauen und 61 Männer an. Die vier Frauen mussten die 53 Prozent der weiblichen deutschen Bevölkerung repräsentieren! In den Augen des Bonner Hofberichterstatters Walter Henkels war Helene Wessel die „markanteste Persönlichkeit unter den weiblichen Abgeordneten“. „In ihrem Gesicht wohnt viel frauliche Güte, aber sie unterläßt es nicht, den Herren der Schöpfung manches zu sagen. Sie ist in ihrer unbestechlichen und ausgeglichenen Art von einer eindrucksvollen, warmen Menschlichkeit.“
Obwohl Helene Wessel - so Henkels - „unbekümmert die Gleichberechtigung der Frauen demonstriert“, setzte sie sich zunächst nicht für den von Elisabeth Selbert (SPD) eingebrachten Antrag mit der Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ein. Erst später änderte sie ihre Meinung, als auf Selberts Initiative hin eine breite Frauenöffentlichkeit Protest einlegte und sich im Parlamentarischen Rat eine umfassende Mehrheit abzeichnete.
Gemeinsam mit Helene Weber (CDU) setzte sie die Privilegierung der traditionellen Familie im Grundgesetz durch, womit gleichzeitig die Diskriminierung aller anderen Lebensformen festgeschrieben wurde. Beide wertkonservativen Frauen lehnten die von der SPD geforderte Gleichstellung unehelicher mit ehelichen Kindern entschieden ab. „Wenn wir von diesem Ordnungsbegriff ausgehen, dass Ehe und Familie die Träger des Staates sind, können wir auf der anderen Seite etwas, das diesem Ordnungsbegriff widerspricht (…) nicht in die gleiche Rangordnung stellen.“ Der heftige Widerspruch Selberts und Friederike Nadigs (SPD) half nicht. Erst 1970 wurde im Nichtehelichengesetz die rechtliche Benachteiligung unehelicher Kinder beseitigt.
Helene Wessel setzte sich gemeinsam mit dem anderen Abgeordneten des Zentrums dafür ein, als Element direkter Demokratie den Volksentscheid ins Grundgesetz aufzunehmen, und stritt für die Verankerung sozialer Grundrechte sowie das Elternrecht, welches den Eltern die Wahl einer Konfessionsschule für ihre Kinder freistellt. Mit diesen für sie zentralen Forderungen konnte sie sich nicht durchsetzen. Bei der Entscheidung über das Grundgesetz am 8. Mai 1949 stimmte sie daher mit Nein, obwohl sie den Verfassungsentwurf durchaus würdigte. Positiv hob sie vor allem die Grundrechte, das Kriegsdienstverweigerungsrecht, den Schutz von Ehe und Familie und die Abschaffung der Todesstrafe hervor. Das Grundgesetz wurde schließlich mit 53 gegen 12 Stimmen angenommen.
Im Bundestag für das Zentrum bis zum Austritt aus der Partei (1949 bis 1952)
Im ersten Bundestag war Helene Wessel eine von zehn Abgeordneten des Zentrums und dessen Fraktionsvorsitzende. Als Vorsitzende des Ausschusses für Fragen der öffentlichen Fürsorge griff sie eine Initiative der CDU/CSU-Fraktion zur Einführung eines Verwahrungsgesetzes auf. Geladene Expert*innen und Ausschussmitglieder debattierten die Probleme skrupellos in Begriffen wie „Minderwertigkeit“, „abnormale Veranlagung“ und „sittliche Verwahrlosung“, als hätte es die Zwangssterilisierungen und Krankenmorde im Nationalsozialismus nie gegeben. Die Gefahr des Missbrauchs eines derartigen Gesetzes sowie die Härte von Zwangsmaßnahmen, die unter Umständen zu einem lebenslangen Freiheitsentzug führen konnten, wurden trotz der NS-Vergangenheit nicht reflektiert.
Helene Wessels Engagement gegen die Wiederaufrüstung und die Westbindung der Bundesrepublik brachte sie in Widerspruch zu ihrer eigenen Partei. Als Anfang 1950 bekannt wurde, dass Adenauer sich für ein westliches Militärbündnis unter Einbeziehung deutscher Soldaten aussprach, erklärte Helene Wessel: „Die Zentrumsfraktion ist der Auffassung, dass dem deutschen Volke der Gedanke an Remilitarisierung in irgendeiner Form unmöglich zugemutet werden kann. Wir Deutschen bangen noch um das Schicksal von 500.000 ehemaligen Soldaten, die aus russischer Kriegsgefangenschaft noch nicht entlassen worden sind. Wir haben Tag für Tag die grausamen Trümmer eines Weltkrieges vor Augen. Die Zentrumsfraktion ist der festen Überzeugung, dass die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes (…) nicht den kleinsten Schritt auf einem Weg dulden wird, der irgendwie in einen neuen Krieg hinein führen könnte.“ Sie befürchtete zudem, dass eine westdeutsche Wiederaufrüstung der Wiedervereinigung im Wege stünde.
Gemeinsam mit einigen Abgeordneten des Bundestages unterstützte sie die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung. Sie stand in Kontakt zur Bonner Geschichtsprofessorin Klara Marie Faßbinder, setzte sich für die internationale Friedensinitiative „WOMAN“ (World Organisation of Mothers of all Nations) ein und hielt viele Vorträge bei außerparlamentarischen Friedensorganisationen. In der überwiegend regierungsfreundlichen Presse, von gegnerischen Politiker*innen sowie der katholischen Amtskirche wurde sie als Kommunistin verunglimpft. Der Kalte Krieg hatte begonnen und der Antikommunismus der bundesrepublikanischen Mehrheit machte es allen, die sich gegen die Wiederbewaffnung aussprachen, schwer. Die Friedensaktivistin Hannelis Schulte kommentierte: „Die Kübel von Schmutz und Diffamierungen, wie sie sich in jener Zeit über jeden politisch Handelnden ergossen, der sich zur Adenauer-Politik nicht konform verhielt, trafen auch sie. Es erforderte viel Tapferkeit und unbeirrbaren Glauben an die Richtigkeit der vertretenen Sache, das alles zu ertragen.“ Einige Male musste Helene Wessel sogar bei ihren Veranstaltungen von der Polizei vor Steine werfenden Demonstrierenden geschützt werden.
Im November 1951 rief Helene Wessel mit Gustav Heinemann (CDU), der im Oktober 1950 sein Amt als Bundesminister des Innern aus Protest gegen Adenauers Politik niedergelegt hatte, die „Notgemeinschaft zur Rettung des Friedens in Europa“ ins Leben. Deren Ziel war es, alle Gegner der Aufrüstung zu vereinen. Angestrebt wurde ein bündnisfreies neutrales wiedervereinigtes Deutschland, bestätigt in einem Friedensvertrag von allen Siegermächten. In der Zentrums-Partei wurden Bedenken laut, ob sich der Parteivorsitz mit einer Führungsrolle in der „Notgemeinschaft“ vereinbaren lasse.
Daraufhin trat Helene Wessel im Januar 1952 als Partei- und Fraktionsvorsitzende zurück und verließ im November 1952 die Partei, die seit 37 Jahren ihre politische Heimat gewesen war. Sie fand im Zentrum kaum noch Verbündete für ihre Überzeugung, dass eine Verständigung mit dem Osten unabdingbar sei. Sie war enttäuscht. „Wir erstrebten mit der Zentrumspartei eine gerechte Lösung der sozialen Gegensätze, eine Neu- und Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Wir lehnten die CDU ab, weil wir keiner neuen Bürgerblockbildung mit den alten antisozialen und antichristlich-liberalen Kräften hinter einem christlichen Firmenschild Vorschub leisten wollten.“ Sie resignierte. Weil die katholische Kirche einseitig die CDU und die Politik Adenauers unterstützte, sah sie keine Zukunft mehr für das Zentrum. „Ich will nicht bitter werden (…) und deshalb trete ich von diesem Kampffeld ab“.
Gründung und Auflösung der Gesamtdeutschen Volkspartei (1952 bis 1957)
Zwei Wochen nach ihrer endgültigen Trennung vom Zentrum gründete Helene Wessel zusammen mit Gustav Heinemann und anderen die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Ziel der GVP war die Verhinderung der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die Wiedervereinigung Deutschlands, das weder dem West- noch dem Ostblock angehören und in dem unter internationaler Kontrolle freie Wahlen durchgeführt werden sollten. Bei der Bundestagswahl 1953 scheiterte die GVP mit nur 1,2 Prozent der Stimmen an der 5-Prozent-Hürde, während die CDU ihr Wahlergebnis noch steigern konnte.
1956 erfolgte eine Grundgesetzänderung, die die Einführung der Bundeswehr auf den Weg brachte. 1957 schrieb Helene Wessel: „Den Kampf gegen die Aufrüstung haben wir leider verloren, das deutsche Volk hat nichts aus seiner schweren Vergangenheit gelernt und taumelt erneut in den Abgrund, wenn nicht die Weltpolitik es verhindert.“ Angesichts dieser Misserfolge und kaum zu erwartender wesentlicher Veränderungen beschloss die GVP 1957 ihre Auflösung und empfahl ihren Mitgliedern, in die SPD einzutreten.
Helene Wessel verlor 1953 ihr Bundestagsmandat. Um ihren Unterhalt zu bestreiten, trat sie mit Mitte fünfzig 1954 eine Stelle als Gewerkschaftssekretärin beim DGB an.
Im Bundestag für die SPD (1957 bis 1969)
Helene Wessel schloss sich trotz gewisser Vorbehalte der SPD an. Ein Ausstieg aus der Politik war für sie nicht vorstellbar. Für die Bundestagswahl 1957 kandidierten sie und Gustav Heinemann auf sicheren Listenplätzen. Beide hielten es für erforderlich, „in vorderster Front gegen die gefährliche Aufrüstungs- und Außenpolitik der Bundesregierung (…) anzukämpfen“. Helene Wessel wurde vor allem von weiblichen Bundestagsabgeordneten unterstützt sowie vom Frauensekretariat der SPD, besonders von Herta Gotthelf. Über drei Wahlperioden saß sie für die SPD im Bundestag. Über die gesamte Zeit gehörte sie dem Petitionssauschuss an, dessen Vorsitz sie von 1959 bis 1965 innehatte.
Im dritten Bundestag plädierte sie - gegen ihre eigene Fraktion - weiterhin für das Verwahrungsgesetz. Die zwangsweise Unterbringung von „Gefährdeten“ fand schließlich Eingang ins 1961 verabschiedete Bundessozialhilfegesetz. 1967 hob das Bundesverfassungsgericht diese Bestimmungen aber als Verstoß gegen das Grundrecht der persönlichen Freiheit auf.
Ein zentrales Anliegen Helene Wessels war der Kampf gegen die atomare Bewaffnung. Ihre vielbeachtete Rede am 21. März 1958 im Bundestag begann sie mit folgenden Worten: „Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe bei den Sprechern der CDU den Eindruck gewinnen müssen, dass ihr Glaube an die Kraft der Atombomben für die Bundesrepublik größer ist als der Glaube an Gott als den Lenker der Weltgeschichte.“ Sie beschwor die Regierung, von der bisherigen Politik der militärischen Einschüchterung und der Strategie der Vergeltung abzurücken. Eindringlich verurteilte sie deren Absicht, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszurüsten. „Wir wollen keine Ausrüstung unserer Bundeswehr mit Atomwaffen und keine Herstellung von Atomwaffen in der Bundesrepublik. Auch die Lagerung von Atomwaffen der in der Bundesrepublik stationierten ausländischen Streitkräfte halten wir für gefährlich.“ In ihrer Rede appellierte sie besonders an die Frauen als die „Hüterinnen des Lebens“. Helene Wessel galt als brillante Rednerin, berühmt für ihre Rededuelle mit Adenauer.
1968 meldete sich Helene Wessel das letzte Mal im Bundestag zu Wort, als die Notstandsgesetze verhandelt wurden. Sie stimmte dagegen - anders als die Mehrheit ihrer Fraktion - mit der Begründung, sie habe die Auswirkungen von Hitlers „Ermächtigungsgesetz“ erlebt.
Die Politik der Verständigung, die Helene Wessel forderte, praktizierte sie selbst durch ihre Reisen in die Sowjetunion, immer begleitet von ihrer Freundin Alwine Cloidt. Im Oktober 1958 fuhr sie als Leiterin einer 19köpfigen Frauendelegation von Politikerinnen, Journalistinnen und Sozialarbeiterinnen auf Einladung der Moskauer Zeitschrift „Die Sowjetfrau“ dorthin. 1959 kam es zu einem Gegenbesuch. Im September 1964 folgte eine weitere Reise mit sechs Frauen. Nach dem Mauerbau 1961 und der Kuba-Krise 1962 kam diese der SPD-Zentrale nicht gelegen. Helene Wessel durfte die Leitung der Delegation nicht übernehmen. Ansätze einer neuen Ostpolitik, wie sie später von Willy Brandt vertreten wurde, lehnte die SPD-Führung zu diesem Zeitpunkt noch ab. Ihre dritte Reise in die Sowjetunion zu zweit zur Kur auf die Krim im Sommer 1967 war dagegen rein privat.
Nach langer schwerer Krankheit starb Helene Wessel am 13. Oktober 1969 mit 71 Jahren in Bonn. Ihr Ende vor Augen schrieb sie im Sommer 1969 aus dem Sanatorium an ihre Lebensgefährtin: „Mein Liebes, ich weiß daß dieser Brief Dir Kummer macht. Ich möchte es nicht versäumen Dir noch ganz herzlich zu danken für alles, was Du für mich getan hast, für Deine Treue und liebevolle Sorge (…). Das ist ein so köstliches Geschenk, daß nur wenige Menschen vom Leben bekommen.“
Gustav Heinemann, seit 1969 Bundespräsident, würdigte seine langjährige politische Weggefährtin: „Sie war eine gütige und tapfere Frau, die die Fähigkeit besaß, mit anderen zu fühlen, mit Mut und Entschlossenheit öffentlich zu wirken und für soziale und politische Reformen zu kämpfen und auch in schwierigen Situationen niemals zu resignieren.“
Text: Ulrike Klens
Quellenangaben
Die Rechte an dem oben stehenden Text liegen beim Haus der FrauenGeschichte Bonn e.V. (Öffnet in einem neuen Tab)
- Notz, Gisela: Helene Wessel, in: Mehr als bunte Tupfen im Bonner Männerclub. Sozialdemokratinnen im Deutschen Bundestag 1957-1969. Bonn 2007, S. 274-307.
- Friese , Elisabeth: Helene Wessel. Von der Zentrumspartei zur Sozialdemokratie. Essen 1993.
- Dertinger, Antje: „Mit der alten Fahne in die neue Zeit“. Helene Wessel. Vorsitzende der Zentrumspartei, in : Frauen der ersten Stunde. Bonn 1989, S. 227-239.
- Ebbinghaus, Angelika: Helene Wessel und die Verwahrung, in: Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus. Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Nördlingen 1987, S. 152-173.
- Nachlässe Helene Wessel, Alwine Cloidt, in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn
- https://www.deutschlandfunk.de/50-todestag-von-helene-wessel-kaempferin-gegen-westbindung.871.de.html?dram:article_id=460807 (Öffnet in einem neuen Tab) (2019)
- https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/helene-wessel (Öffnet in einem neuen Tab) (2012)
- https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/helene-wessel (Öffnet in einem neuen Tab) (1998)