Renate HellwigOhne Frauen ist die Demokratie nur halb.
Sie schätzen Rita Süßmuth? Aber kennen Renate Hellwig nicht? Dann lesen Sie weiter, um mehr über diese Vorkämpferin für Gleichberechtigung zu erfahren, die in der CDU offensiv gekämpft, wichtige Debatten angezettelt und manches erreicht hat.
Da sie selbstbewusst und kämpferisch auftritt und ihre Meinung freimütig äußert, wird ihr gelegentlich gesagt: „So wirst du nie was!“ Ihre Antwort darauf: „Ich bin doch schon was!“
Renate Hellwig ist von 1972 bis 1975 Mitglied des baden-württembergischen Landtags und wird 1975 in den Bundesvorstand der CDU-Frauenvereinigung gewählt. Von 1975 bis 1980 ist sie Staatssekretärin im Sozialministerium von Rheinland-Pfalz. Von 1980 bis 1998 ist sie direkt gewählte Bundestagsabgeordnete in Bonn und gehört seit 1985 dem Bundesvorstand der CDU an, bis sie 1998 mit dem Verlust ihres Wahlkreises aus der Politik aussteigt. Obwohl sie es verdient hätte, Ministerin zu werden und auch den nötigen Ehrgeiz besitzt, geht es ihr aber nicht um ein Vorwärtskommen um jeden Preis.
Politik ist für Renate Hellwig eine Leidenschaft, die sie selbst als Sucht wie das Rauchen bezeichnet. Sie legt eine beachtliche Karriere hin trotz der massiven Vorurteile, denen die wenigen Frauen in der Politik zu dieser Zeit ausgesetzt sind. Als wirkliche Interessenvertreterin für Frauen stößt sie aber auch auf enormen Widerstand. Ihr Leben als unbequeme und streitbare Politikerin ist nicht einfach. Sie muss einige schmerzhafte Niederlagen einstecken. Erschwerend kommt hinzu, dass sie ihr Lesbischsein lange verheimlichen und damit einen wichtigen Teil ihrer Person verleugnen muss.
Jahre in Bonn
Als eine echte Bonnerin kann sie wohl nicht bezeichnet werden, obwohl sie achtzehn Jahre als Mitglied des Bundestages in der alten Bundeshauptstadt weilt. Dazu ist sie viel zu viel unterwegs. Gerne sitzt sie in einem der Cafés auf dem Bonner Marktplatz. Ihr fehlt es aber höchstwahrscheinlich an Muße, sich mehr auf Bonn einzulassen. „‚Zum Leben hab‘ ich keine Zeit‘, dieser Satz (...) soll leicht verschmitzt ihr enormes Arbeitspensum ironisieren, und doch steckt ein selbst gestecktes Ziel dahinter, das ihr zum Ausruhen und Sich-treiben-lassen offenbar keine Zeit lässt.“ (Meyer, S. 260)
Sie schätzt sich glücklich, eins der Ein-Zimmer-Apartments – eins der „Kabuffs“, wie sie selbst sie nennt - unmittelbar neben dem Bundestag beziehen zu können, die nur für einen kleinen Anteil der Abgeordneten zur Verfügung stehen. Immer wenn sie in Bonn abkömmlich ist, fährt sie zu ihrem Hauptwohnsitz nach Bietigheim nahe Stuttgart in ihren Wahlkreis. Zusätzlich pendelt sie noch nach München, dem Wohnort ihrer damaligen Lebensgefährtin, mit der sie seit 1973 zusammen ist und deren Sohn.
Da sie aus ihrem Wahlkreis mehr Besucher*innen nach Bonn einlädt als ihre baden-württembergischen CDU-Kollegen und sogar noch deren nicht ausgeschöpfte Kontingente übernimmt, wird sie vom damaligen Oberbürgermeister gerühmt, sich um Bonns Ansehen in der Republik besonders verdient gemacht zu haben. Sie hält viel von diesen „Polit-Wallfahrten“ und organisiert daher diesen „speziellen Reiseverkehr“ sehr intensiv. Möglichst viele Bundesbürger*innen sollen persönlich erfahren, wie „praktisch irdisch und menschlich“ sich Politik abspielt.
Als die Grünen 1983 in den Bundestag einziehen, nimmt sie aus Neugier manchmal an deren endlos dauernden öffentlichen Fraktionssitzungen im Hochhaus Tulpenfeld teil. Ihr sind die Grünen sympathisch, sie müssten sich ihrer Meinung nach allerdings vom Prinzip des Diskutierens fast bis zum Konsens verabschieden, wenn sie effektive Politik machen wollten.
Ausbildung und berufliche Anfänge
1940 wird sie als Tochter eines Goldschmieds in Beuthen (Oberschlesien) geboren. 1945 flieht sie mit ihrer Mutter und ihrem zweijährigen Bruder – ihr Vater ist noch im Krieg – in den Westen Deutschlands. Einen großen Teil ihrer Jugend verbringt sie in München. Dort baut sich ihr Vater eine Existenz als Juwelier auf.
Sie besucht hier die Schule, ist jahrelang Klassensprecherin und macht 1959 ihr Abitur. Anschließend immatrikuliert sie sich in München für Rechtswissenschaft. Ihre Eltern hätten es lieber gesehen, wenn sie „etwas Vernünftiges“ gelernt hätte. Nach einem Semester geht sie anderthalb für sie bedeutsame Jahre nach Berlin. Sie erlebt die Krise vor dem Mauerbau, wird sich bewusst, dass sie lesbisch ist und wird ins Studierendenparlament gewählt. Nach ihrer Rückkehr nach München schließt sie ihr Studium in Rekordzeit ab, absolviert ihr damals noch dreieinhalb Jahre dauerndes Referendariat und promoviert 1967 parallel dazu mit 27 Jahren.
Ein paar Tage später beginnt sie ein halbjähriges Praktikum bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel. 1968 tritt sie ihre erste Stelle als Referentin im Bonner Bundesministerium für Arbeit und Soziales an. 1969 wechselt sie als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit ins baden-württembergische Kultusministerium nach Stuttgart. Damit befolgt sie den Rat der damaligen Familienministerin Aenne Brauksiepe, die sie auf einem Empfang der weiblichen CDU-Bundestagsabgeordneten gefragt hatte, auf welchem Posten sie die besten Chancen hätte, ein Bundestagsmandat zu erreichen. „Sie empfahl mir nach Stuttgart zu gehen. In Brüssel sei ich ‚zu weit vom Schuss‘, in Bonn gebe es schon zu viele Anwärter, da sei ‚die Provinz‘ doch am besten.“ (Hellwig 2013, S. 235 f.)
Einstieg in die Politik
Ihre politische Sozialisation beginnt schon früh im liberalen Elternhaus, dafür ist vor allem ihr Vater verantwortlich. Er mahnt sie, möglichst früh in der Demokratie den Mund aufzumachen, in einer Diktatur sei es zu spät, dann müsse man für seine ehrlich geäußerte Meinung mit dem Leben bezahlen. Er fordert sie auf, in die Politik zu gehen und die junge bundesrepublikanische Demokratie zu verteidigen. Ihre Familie ist überhaupt sehr diskussionsfreudig. An Debatten zu aktuellen politischen Problemen mit den Eltern, die der FDP nahestehen, nehmen die Kinder selbstverständlich teil und sind daher politisch wohl informiert. Schon in dieser Zeit entsteht ihr Wunsch, Politikerin zu werden.
Dieser Wunsch wird noch verstärkt, als sie 1960/61 das politisierte Klima in Berlin vor dem Mauerbau erlebt und an pausenlosen Diskussionen von Studierenden aus Ost- und Westberlin teilnimmt. „Wir redeten uns nicht nur die Köpfe heiß über Kommunismus und westliche Demokratien, sondern natürlich auch, wie marktwirtschaftlich einerseits und wie sozial andererseits unser westliches System sein müsse, um gerecht zu sein“ (Hellwig 1984, S. 326 f.). Sie ist begeistert von Willy Brandt, kann sich aber noch nicht entschließen, in eine Partei einzutreten. Für das Studierendenparlament kandidiert sie deshalb auf einer freien Fachschaftsliste.
Erst rund ein Jahrzehnt später, als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit beim Kultusminister Wilhelm Hahn in Stuttgart, kann sie sich mit seiner Bildungspolitik identifizieren. So erscheint es ihr schließlich ganz selbstverständlich nach persönlicher Anwerbung 1970 der CDU beizutreten. „Der innere Vorbehalt gegen Parteien schlug bei mir nun geradezu um in die Faszination an diesem innerparteilichen Meinungswettstreit. Hunderte, Tausende von Menschen, jeder mit seiner ganz persönlichen Veranlagung, seinem Lebenslauf, seiner Umgebung, seiner Erfahrung, bilden gemeinsam eine Partei. Eine Partei ist ein äußerst unruhiges Meinungsmeer, dessen Mehrheiten keineswegs so gesichert und starr sind, wie es für den Außenstehenden scheint.“ (Hellwig 1984, S. 329) Für Renate Hellwig sind offen ausgetragene Kontroversen ein Markenzeichen demokratischer Politik.
Landtagsabgeordnete
Nach nur zwei Jahren Parteimitgliedschaft wird sie als Landtagskandidatin 1972 in einem für die CDU als uneinnehmbar geltenden „linken“ Wahlkreis aufgestellt. Sie holt ihn, und das auch noch mit überdurchschnittlich hoher Stimmenmehrheit. Als Mitglied des Fraktionsvorstandes und als Hochschulsprecherin der CDU-Fraktion ist ihr Schwerpunkt im Stuttgarter Landtag die Kulturpolitik.
1975 wird sie von der Esslinger CDU gefragt, ob sie nicht für sie zur nächsten Bundestagswahl antreten wolle. Sie gewinnt die innerparteiliche Vorentscheidung für das in Aussicht stehende Bundestagsmandat. Unmittelbar darauf bietet ihr überraschend Heiner Geißler, damals rheinland-pfälzischer Sozialminister, an seine Staatssekretärin zu werden. Erst später wird ihr klar, dass dahinter die Personalpolitik Helmut Kohls steckt, der seinen Favoriten Gerd Langguth mit ihrem Wahlkreis versorgen will, um ihn in den Bundestag nach Bonn zu befördern. Damit sie verzichtet, muss ihr ein anderer attraktiver Posten offeriert werden, um sie „aus dem Weg“ zu räumen. Anfangs lehnt sie ab, weil sie sich der Esslinger CDU verpflichtet fühlt und eigentlich lieber in den Bundestag will. Auf Anraten Lothar Späths, der meint, es schade nicht, wenn sie auch mal regieren lerne, sie könne dann immer noch in den Bundestag, geht sie schließlich nach Mainz.
Staatssekretärin
Ihre fünf Jahre in Mainz von 1975 bis 1980 bezeichnet sie selbst als „Highlight“. Obwohl für sie, als sie ihre Stelle antritt, „so gut wie alles neu (ist): Das Amt, das Fachgebiet, die Landespartei, die Mentalität der Menschen“ (Hellwig 1984, S. 331). Vor allem gefällt ihr der relativ große Handlungsspielraum für eine Staatssekretärin. Denn ihr Chef Heiner Geißler übernimmt als Mitglied der Wahlkampfmannschaft von Helmut Kohl und später Generalsekretär der CDU zusätzliche politische Aufgaben. Als Staatssekretärin wird von Renate Hellwig nicht nur die Auseinandersetzung mit der Sozialpolitik gefordert, sondern auch das Austarieren der latenten Spannung zwischen Politik und Verwaltung.
Bundestagsabgeordnete und Mitglied des Bundesvorstandes der CDU
Als Heiner Geißler aus der Landesregierung ausscheidet, erinnert sich Renate Hellwig an das Versprechen Lothar Späths, sie jederzeit nach Baden-Württemberg zurückzuholen, wenn sie es wolle. Er schlägt ihr vor, sich im 1980 neu geschaffenen Bundestagswahlkreis Neckar-Zaber aufstellen zu lassen. Diesen Wahlkreis vertritt sie dann 18 Jahre lang, von 1980 bis 1998, als Bundestagsabgeordnete und damit prägt sie die Bonner Republik.
Während der gesamten Zeit ist sie Mitglied im Finanzausschuss. 1983 bis 1994 ist sie Vorsitzende der Europakommission bzw. des Europaausschusses im Deutschen Bundestag, bis der Vorsitz zur SPD wechselt. Ab 1994 übernimmt sie den Vorsitz des Europaarbeitskreises der CDU-Fraktion und ist damit gleichzeitig Sprecherin der CDU-Fraktion im Ausschuss. 1993 bringt sie das Buch „Der Deutsche Bundestag und Europa“ heraus.
Auf dem Parteitag 1985 wird sie in den Bundesvorstand der CDU gewählt, dem sie bis 1998, solange sie Bundestagsabgeordnete ist, angehört.
Ihr Verhältnis zu Helmut Kohl ist konfliktgeladen, denn sie nimmt kein Blatt vor den Mund, sagt auch ihm gradheraus ihre Meinung und vertritt selbstbewusst und beharrlich ihren Standpunkt. „In Bundesvorstandssitzungen geriet sie immer wieder mit dem Parteivorsitzenden aneinander, mal forderte sie die Quote für Frauen, mal nahm sie es auf sich, den Ärger in der Partei stellvertretend für viele andere, die sich nicht aus der Deckung wagten, vorzutragen. Nach solchen Interventionen nahm sich der Kanzler seine Kritikerin coram publico zur Brust und drosch verbal so lange auf sie ein, bis jeder verstanden hatte, dass es sich nicht lohnte, mit ihm in einen Ring zu steigen. „Und wenn wir dann eine Klausurtagung hatten und abends gemütlich beisammensaßen, bestellte er komischerweise gerne mich an seinen Tisch. ‚Frau Hellwig, warum müssen sie denn immer so widerborstig sein?‘ Daraufhin erwiderte ich: ‚Das hab ich von meinem Vater geerbt. Der hat immer gesagt: In einer Demokratie musst du den Mund aufmachen. In einer Diktatur kannst du es nicht.‘ - ‚Aber Sie können das doch auch mal zurückhaltender formulieren.‘ - ‚Sie müssen sich auch Dinge anhören, die Ihnen nicht passen, sonst sagt es Ihnen ja niemand. Dankbar sollten Sie mir sein.‘“ (Körner, S. 250b f.)
Ihr Bruder, angestiftet vom geschiedenen Ehemann ihrer Lebenspartnerin, schickt an alle Fraktionen im Bundestag einen Brief, in dem er Renate Hellwig zwangsoutet. Da sie nie einen Hehl aus ihrem Lesbischsein gemacht hat, ist es ihrem näheren Umfeld in der CDU eigentlich bekannt. Aber es wird ihr dringend geraten, sich nicht öffentlich dazu zu bekennen, das sei in der CDU noch unmöglich. Die Grünen dagegen schreiben ihr, sie hätten absolut nichts gegen ihre lesbische Lebensweise und sprechen ihr ihr Mitgefühl dafür aus, mit einem solchen Bruder geschlagen zu sein.
Frauenpolitik
„Der reine Männerstaat ist das Verderben der Völker!“ Dieser Satz, 1949 von der CDU-Abgeordneten und Mutter des Grundgesetzes Helene Weber mit Blick auf die NS-Zeit im Deutschen Bundestag ausgesprochen, löst im Parlament allgemeine Heiterkeit aus. Aber auch für Renate Hellwig sind Frauen in politischen Machtpositionen in einer wirklichen Demokratie unverzichtbar. Nicht weil Frauen Politik besser als Männer machen, sondern weil sie gleichberechtigte Staatsbürgerinnen sind, haben sie ihrer Ansicht nach einen Anspruch auf volle politische Mitwirkung. „Eine Demokratie kann nur fortbestehen, wenn alle Bürger sie mitverantwortlich gestalten. Wenn nur die männliche Hälfte der Bevölkerung sich berufen und verpflichtet fühlt, diesen politischen Auftrag zu erfüllen, so haben wir damit erst die halbe Demokratie erreicht. Die ganze Demokratie wird in ihrer vollen Blüte erst verwirklicht sein, wenn Frauen in gleichem Maße wie Männer nicht nur zur Wahl gehen, sondern Mitglieder in den Parteien sind und etwa die Hälfte der Parlamentarier in den Gemeinderäten, Landtagen und Bundestagen stellen.“ (Hellwig 1984, S. 15)
Frauenpolitik gehört nicht zu den Bereichen, mit denen sich Renate Hellwig in der Politik primär beschäftigt. Aber sie wird für sie zu einer Notwendigkeit. Sie macht die Erfahrung, als aktive Politikerin immer in der Minderheit zu sein. Im Stuttgarter Landtag von 1972 bis 1975 gehört außer ihr nur eine weitere Frau der CDU-Fraktion an. Im Bundestag von 1980 bis 1990 liegt der Anteil der Frauen in der CDU-Fraktion unter 10 Prozent, von 1990 bis 1998 trotz einer Steigerung durch die Wiedervereinigung immer noch unter 20 Prozent. Renate Hellwig tritt für eine Quotierung in den politischen Gremien und Ämtern ein. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen müsse mindestens so groß sein wie an der Parteibasis.
Da sie sich für Frauen stark macht, muss sie mit aggressivem und herausforderndem Verhalten rechnen. Sie lässt sich aber nichts gefallen und setzt sich - schlagfertig im wahrsten Sinne des Wortes - zur Wehr. „Ich hatte in der Fraktion wieder einmal entschieden für ein Gesetz gegen die Diskriminierung von Frauen argumentiert. Ein Kollege war so empört, dass er aufsprang, auf mich zukam und mir eine Ohrfeige gab. Ich schlug sofort zurück und wir hätten uns richtig geprügelt, wenn die Kollegen ihn nicht gleich ‚in die Zange‘ genommen hätten. (...) So konnte ich auch erleben, dass die Kollegen mich gerne provozierten. So zum Beispiel ein Dialog zwischen Günther Oettinger und Erwin Teufel in meiner Anwesenheit: ‚Kannst du dir erklären, warum die Frauen seit über 2000 Jahren unterdrückt werden?‘ - ‚Ja, weil es sich bewährt hat.‘ Meine Bemerkung dazu: ‚So alt schon und immer noch Kindsköpfe ...‘“ (Hellwig 2013, S. 244)
Als Parteipolitikerin hält es Renate Hellwig für unabdingbar zweigleisig zu fahren, nämlich sich sowohl mit Frauenpolitik zu befassen als auch mit allen anderen Politikfeldern. „Welcher Weg ist nun für eine Frau in einer Partei der richtige? Soll sie ihre Aktivitäten voll auf die Frauenvereinigung konzentrieren, oder von vorneherein nur in der Gesamtpartei mitarbeiten, oder ihre Aktivitäten relativ gleichmäßig zwischen Frauenvereinigung und Gesamtpartei aufteilen?“ (Hellwig 1975, S. 89) Nur den letzten Weg hält sie für geeignet und schlägt ihn demzufolge auch selber ein. Denn nur so könne einerseits die Stellung der Frau in der Partei gestärkt, andererseits der Vorstoß von Frauen in bisher von Männern beherrschte Sachgebiete erreicht werden.
1973 wird Renate Hellwig von Hans Filbinger der Vorsitz der Kommission „Frau und Familie“ angeboten. Das auf dem Landesparteitag 1974 vorgelegte Papier sorgt für große Aufregung bei der Parteibasis wegen seiner Forderungen nach mehr Gleichberechtigung und Chancengleichheit für Frauen. Die Südwest Presse titelt: „CDU-Frauen blasen zum Denkmalsturz. Sie wollen Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier.“
1975 erscheint ihr Buch „Frauen verändern die Politik – Eine gesellschaftspolitische Streitschrift“. Hier setzt sie sich mit der Familienfeindlichkeit heutiger Väter auseinander und plädiert für eine angemessene Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Sie appelliert an die Frauen, sich in die Politik einzumischen, denn „Frauen verändern die Politik, weil sie anders denken als Männer; nicht in allem, aber in vielem. (...) und diese andere Art des Denkens sollte in der Politik mehr zur Wirkung kommen.“ (Hellwig 1975, S. 104 f.)
Auf dem Parteitag der CDU 1975 fordert die „Entwicklungshelferin für Frauen“, die jetzt auch dem Bundesvorstand der CDU-Frauen-Union angehört: „Die Aufwertung der Erziehungsarbeit der Mütter kann kurzfristig dadurch erfolgen, dass sie grundsätzlich einen Anspruch auf die Hälfte des Familieneinkommens haben, auch dann, wenn sie selbst nicht erwerbstätig sind.“ Die FAZ lobt, ihr sei „die für die CDU 1975 revolutionäre Umsetzung emanzipatorischer Gedanken in ein politisches Programm gelungen“.
1978 wird ihr die Leitung des Arbeitskreises „Familie“ der Sozialausschüsse übertragen. 1981 entbrennt ein heftiger Streit um das familienpolitische Leitbild der CDU zwischen ihr und Norbert Blüm, der auch in der öffentlichen Presse ausgetragen wird. Der Bundestagung der Sozialausschüsse werden ihre beiden gegensätzlichen Entwürfe zur Abstimmung vorgelegt, da es im Vorfeld zu keiner Einigung kommt. Blüms Thesen zur „sanften Macht der Familie“, die für eine Wiederaufwertung der Mütterlichkeit in der Gesellschaft eintritt, werden schließlich angenommen.
Renate Hellwigs Leitsätze dagegen „nennen vor allem zwei Herausforderungen und Chancen für die Familie von heute: die Selbstentfaltung des einzelnen und die Forderung nach Partnerschaft zwischen Mann und Frau.“ (Hellwig 1981) Sie bezeichnet Blüms Thesen als „Rückfall ins vorige Jahrhundert“ und „eine Diffamierung jeder Berufstätigkeit der Frau“. Die heile Familie, d.h. die Mutter, solle gegen das Ungemach der kalten kaputten industrialisierten Welt helfen. Seine Positionen seien weit entfernt von der Wirklichkeit heutiger Familien und böten keine zukünftigen Lösungsansätze, stellt Renate Hellwig fest, „sie mögen vielleicht geeignet sein, Vätern, die heute sehr wohl spüren, wie unzulänglich sie ihren Pflichten als Vater nachkommen, vorübergehend ein gutes Gewissen zu verschaffen“ (Hellwig 1981). Auf der Bundestagung spitzt sie ihre Kritik noch zu: „Männer müssen sich zutrauen, in der Frau die echte Partnerin zu sehen und nicht nur entweder die alles bergende ‚Urmutter‘ in der Form der nicht-berufstätigen Hausfrau und Mutter, karikiert als ‚braves Heimchen am Herd‘, oder die gefährliche zerstörerische Hexe in der Form der berufstätigen Frau, diffamiert als ‚Emanze‘“ (Hellwig 1984, S. 336). Diese deutlichen Worte sind den Delegierten - die meisten Ehemänner von Hausfrauen - zu viel. Renate Hellwig erntet Buh-Rufe und helle Empörung.
1985 gibt es in der CDU-Frauen-Union stürmische Diskussionen um die Nachfolge von Familienminister Heiner Geißler. Die meisten Frauen beanspruchen eine zweite Ministerin im Kabinett Kohl, was sie für längst überfällig halten. Renate Hellwig ist es schließlich, die Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlich auffordert, eine zweite Frau und zwar aus den eigenen Reihen in seine Regierung zu nehmen. Helmut Kohl beruft daraufhin mit Rita Süßmuth, eine Seiteneinsteigerin, in sein Kabinett. Alice Schwarzer prognostiziert schon vor dieser Personalentscheidung, dass die als „Horror-Emanze“ verschriene Renate Hellwig, sicher nicht als Ministerin zum Zuge kommt. „Sie wird es ganz bestimmt nicht. Obwohl sie unter den jüngeren CDU-Frauen diejenige ist, die in Sachen Frauenfrage am meisten und gründlichsten nachgedacht hat“ (EMMA, Nr.4/1985, S. 17). Und Helmut Kohl ist nachtragend. „Im Bundesvorstand der CDU musste ich dann immer wieder erleben, dass ich trotz meiner Wortmeldung nicht dran kam, weil dem Herrn Vorsitzenden meine Beiträge zu ‚sperrig‘ waren“ (Hellwig 2013, S. 239).
Auch ihre weitere Karriere wird von Kohl ausgebremst. 1986 stirbt die langjährige Vorsitzende der CDU-Frauen-Union Helga Wex. Heiner Geißler und Frauen aus dem Vorstand der Frauen-Union ermutigen Renate Hellwig, ihre Nachfolge anzutreten. Daraufhin fragt sie Rita Süßmuth, ob sie selbst an dem Vorsitz interessiert sei. Diese verneint, denn sie sei als Ministerin schon ausgelastet genug. Außerdem befürworte sie Hellwig auf diesem Posten, weil sie ja ähnliche Ansichten hätten. Also kandidiert diese für den Vorsitz. Aber Helmut Kohl mischt sich ein. Er teilt Heiner Geißler und Rita Süßmuth unmissverständlich mit, er bestehe auf einer Kandidatur Süßmuths. Beide teilen Renate Hellwig dies mit großem Bedauern umgehend mit und schlagen vor, für sie ein neues Amt zu schaffen, was aber wiederum nicht mit Kohl abgesprochen ist. So erklärt sie den beiden, sie halte ihre Kandidatur aufrecht. „Also kandidierte ich und ging in Schönheit unter, u.a. auch weil die ehemalige Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt mit dem Argument für Frau Süßmuth kämpfte: ‚Wenn eine Ministerin Vorsitzende werden wolle, dann dürfe man ihr das schon deswegen nicht verweigern, weil man sonst das Ministeramt beschädige ...‘“ (Hellwig 2013, S. 240). Nach dieser Niederlage ist Renate Hellwigs Energie, sich für Frauenpolitik zu engagieren, endgültig verbraucht.
Frauensolidarität
Renate Hellwig sieht sich eher als Einzelkämpferin in ihrer Partei. „Am besten kann ich mich auf mich selbst verlassen“. (Meyer, S. 109) Dafür scheint auch die Erfahrung mangelnder Solidarität verantwortlich zu sein, gerade auch von Frauen in der CDU. In der scharfen Auseinandersetzung mit Norbert Blüm z.B. unterstützen sie nur einzelne Parteifrauen, manche fallen ihr sogar in den Rücken. „Nur ein paar wackere junge Männer und noch weniger Frauen hatten es gewagt, gegen diese Tribunal-Stimmung anzureden. Es gab auch Frauen, die unter dem Jubel der Delegierten mit großem Vergnügen mir zusätzlich ‚eins auf den Kopf gaben‘.“ (Hellwig 1984, S. 336). Ein weiteres Beispiel ist die Zurückhaltung des Bundesvorstands der Frauen-Union, der sich nicht dazu durchringt, klar und deutlich eine zweite Ministerin im Kabinett zu verlangen. So bereitet Renate Hellwig dazu allein eine eigene Presseerklärung vor. Die anderen Frauen halten sich vornehm zurück, springen ihr nicht bei aus Angst, Helmut Kohl zu verärgern und ihre eigene Hoffnung auf den Posten begraben zu müssen (vgl. Hellwig 2013, S. 239).
Nur wenn die Frauen an einem Strang zögen, würden sie erreichen, dass die Gesellschaft sich in Sachen Gleichberechtigung weiterentwickelt, meint Renate Hellwig. Und weiter: „Sie (müssen) sich ihre heutige Minderheitenstellung im politischen Raum zunächst schonungslos eingestehen und dann daraus die Konsequenz eines geschlossenen solidarischen Auftretens ziehen“ (Hellwig 1975, S. 91). Dazu bestünde gegenüber unseren Vorgängerinnen, die unter schlimmsten Anfeindungen, uns den Weg in Parteien und Parlamente freigekämpft hätten, auch eine Verpflichtung (vgl. Hellwig 1984, S. 337). Vor allem ihr Minderheitenstatus in der Politik mache es notwendig, dass sie untereinander als Frauen solidarisch sind. Diese Art von Solidarität habe z.B. Helene Weber bewiesen, als sie sich nachdrücklich bei Konrad Adenauer dafür einsetzte, dass Elisabeth Schwarzhaupt die erste weibliche Ministerin in seinem Kabinett wird, und darüber hinwegsieht, dass sie beide sogar in Grundsatzfragen nicht immer der gleichen Meinung sind. (vgl. Hellwig 1984, S. 338)
Ausstieg aus der Politik
Nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag und ihrem Rückzug aus dem Bundesvorstand der CDU 1998 zieht Renate Hellwig nach München zu ihrer Lebensgefährtin. Dort absolviert die Protestantin, in deren Elternhaus auch Religion eine bedeutende Rolle gespielt hat, ein Studium der evangelischen Theologie. Damit bezieht sie sich auf den anderen Wunsch, den sie als Kind gehabt hat, nämlich „Politikerin oder Missionarin“ zu werden.
Sicher ist ihr diese radikale Veränderung, von einer öffentlichen wieder zu einer privaten Person zu werden, nicht leicht gefallen. Politik hat während der vergangenen Jahrzehnte ihr Denken und Handeln allumfassend bestimmt. „Für Politiker hört sehr bald die Trennung zwischen beruflichem und privatem Bereich auf. Auch persönliche Freunde politisieren gern mit ‚ihrem‘ Abgeordneten, und das Nachdenken über politische Fragen lässt sich bald nicht mehr abschalten“ (Hellwig 1984, S. 335).
Endlich kann sie aber ihr Lesbischsein frei leben. Nach dreißig Jahren Lebenspartnerschaft, die viele Jahre als Fernbeziehung besteht, verliebt sie sich 2003 noch einmal neu. Heute lebt sie glücklich mit ihrer Lebenspartnerin, die sich offen zu ihr bekennt, in Berlin.
Fazit
Renate Hellwig zeichnet sich auch besonders dadurch aus, dass sie selbst als Bundestagsabgeordnete nicht den Kontakt zur Basis verliert. Zu ihrer intensiven Betreuung ihres Wahlkreises bemerkt sie: „Mir ist dabei besonders wichtig, möglichst viel Praktisches, Konkretes zu erfahren, vor allem, was die Leute so über ‚uns‘, die christlich-liberale Koalition in Bonn, reden, was sie für Erwartungen an uns haben und was ihre Alltagssorgen und Freuden sind“ (Hellwig 1984, S. 335). Sie kann zuhören, geht ohne Scheuklappen an die Lösung von Problemen und greift nicht auf vorgefertigte realitätsferne Konzepte zurück.
Als Franz-Josef Strauß 1980 vom Spiegel gefragt wird, ob er sich auch eine Frau als Bundeskanzler vorstellen könne, nennt er zwei Frauen, eine davon Renate Hellwig. Bundeskanzlerin ist sie nicht geworden und auch nicht Ministerin oder Europa-Kommissarin, aber „ich bereue nichts“, sagt sie rückblickend.
Renate Hellwig hat die Emanzipation der Frauen einen großen Schritt vorangebracht, aber für sie ist das Ziel noch nicht erreicht. „Der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter ist auch weiterhin für alle politisch engagierten Frauen eine unverzichtbare Aufgabe. Wir erleben mitten in Deutschland, im Land des Artikels 3 des GG, dass Frauen in den muslimischen Minderheiten unterdrückt werden, dass Frauen und Kinder misshandelt werden und dass Frauen nicht annähernd gleichberechtigt in Führungspositionen vertreten sind“ (Hellwig 2013, S. 246).
Text: Ulrike Klens
Quellenangaben
Die Rechte an den oben stehenden Texten liegen beim Haus der FrauenGeschichte Bonn e.V. (Öffnet in einem neuen Tab)
Renate Hellwig:
- Frauen verändern die Politik. Eine gesellschaftspolitische Streitschrift. Stuttgart 1975.
- Wer rettet die Familie?, in: ZEIT Nr. 30/1981
- (Hg.): Die Christdemokratinnen. Unterwegs zur Partnerschaft. Stuttgart u.a. 1984.
- Alibifrauen? – Die Union und ihre weiblichen Mandatsträgerinnen nach der Ära Adenauer, in: Elisabeth Schwarzhaupt (1901 bis 1986). Porträt einer streitbaren Politikerin und Christin. Hessische Landesregierung (Hg.). Freiburg/Breisgau 2001, S. 173 bis 185
- Ich bereue nichts, in: Beate Neuss/Hildigund Neubert (Hg.): Mut zur Verantwortung.
- Frauen gestalten die Politik der CDU. Köln u.a. 2013, S. 233 bis 247
- Persönliches Telefongespräch mit Ulrike Klens. 25. September 2020
- CDU. Sanfte Macht, in: DER SPIEGEL Nr.31/1981, S. 72 bis 73
- Blüm contra Hellwig. Familienstreit, in: ZEIT Nr. 45/1981
- Alice Schwarzer: CDU-Damenparade, in: EMMA Nr. 4/1985, S. 16 bis 22
- Birgit Meyer: Frauen im Männerbund. Politikerinnen in Führungspositionen von der Nachkriegszeit bis heute. Frankfurt/Main u.a. 1997
- Torsten Körner: In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten. Köln 2020
- Denise Lindsay: Hellwig, Renate, in: Internetseite Konrad-Adenauer-Stiftung, URL: www.kas.de/de/statische-inhalte-detail/-/content/hellwig-renate, Abruf 26. September 2020